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Die Methodik der STIKO
Häufig erreichen uns Fragen wie: Wie arbeitet eigentlich die STIKO bei der Erarbeitung neuer Impfempfehlungen? Wie wissenschaftlich fundiert sind die angewandten Methoden? Und lässt sich die Arbeitsweise der STIKO mit der von ÄFI vergleichen? Antworten darauf finden Sie in diesem Beitrag.
Vorbemerkung:
Die Ständige Impfkommission (STIKO) entwickelt die nationalen Impfempfehlungen für Deutschland – dementsprechend hoch sind die Erwartungen an die sorgfältige und gewissenhafte wissenschaftliche Arbeit des Gremiums. Dieser Beitrag von ÄFI setzt sich mit der Methodik und der Transparenz des Standardvorgehens (Standard Operating Procedure, SOP) der STIKO auseinander. Letztlich sollen auch die Ergebnisse überprüft werden, die aus dem SOP resultieren. Das erfolgt beispielhaft anhand der Meningokokken-B-Impfempfehlung für alle Säuglinge und der COVID-19-Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren.
Auf einen Blick:
Prozess
Fünf-Schritte-Methode – 1. Formulierung der Fragestellungen und Operationalisierung ihrer Bausteine 2. Systematische Literaturrecherche 3. Bewertung der Qualität der Evidenz 4. Umsetzung der gewonnenen Einsichten 5. Evaluation der Umsetzung und ggf. Anpassung
Transparenz
Die Gewichtung der verschiedenen Domäne (Wissensgebiete) wie z. B. Krankheitslast, Impfstrategie, Impfstoffwirksamkeit ist undurchsichtig; die STIKO hat keine Schwellenwerte definiert, ab denen eine Krankheit Public-Health-Relevanz aufweist
Suchstrategie
Kriterien der systematischen Literaturrecherche wie Operationalisierung von Suchbegriffen, Suche in mehreren Datenbanken, Veröffentlichung der Suchergebnisse; keine Nutzung von MeSH-Terms oder grauer Literatur
Verbindlichkeit
Es ist kein Studienprotokoll vorgeschrieben; es findet keine systematische Literaturrecherche zu Krankheitslast, Impfstrategie etc. statt; Nutzung von Instrumenten zur Auswertung von Studien wie AMSTAR ebenfalls unverbindlich
Kommunikations-strategie
Schon vor Publikation der Ergebnisse arbeitet die STIKO an einer Strategie, die Veröffentlichung der Fachwelt bekannt zu machen; es fehlt jedoch (wie vom ebM-Netzwerk gefordert) ein transparenter und verständlicher Standard zur Kommunikation
Beispiel Meningokokken B
Die STIKO gibt selbst wenig Pro, aber viele Kontra-Argumente an – geringe Krankheitslast, hohe Reaktogenität des Impfstoffs, Suchstrategie nicht ausreichend, Evidenz zur Wirksamkeit dünn, keine erwartbaren Herdeneffekte, keine Daten zur Schutzdauer der Impfung etc. – einzig das hohe Risiko eines schweren Verlaufes ist ein valides Pro-Argument
Beispiel COVID-19 bei Kindern
Die Veröffentlichungen und Aussagen der STIKO lassen eher auf eine Empfehlung aufgrund von politischen Druck schließen; die Argumente haben sich nicht groß im Verlauf der Pandemie-Jahre geändert – Kinder und Jugendliche haben nie eine COVID-19-Impfung gebraucht (wie auch die STIKO selbst zugibt)
Vergleich ÄFI & STIKO
Nur eingeschränkt möglich (!); Überschneidungen bspw. bei der Nutzung von Tools zur Auswertung der Literatur, Bewertung der externen Validität und regelmäßigen Aktualisierung der Ergebnisse; als Unterschiede ergeben sich, dass die STIKO im Gegensatz zu ÄFI Modellierungen eine hohe Priorität einräumt, keine MeSH-Terms und graue Literatur nutzt und Interessenskonflikte aufweist
Fachbeitrag:
In dem 2018 publizierten 31-Seiten langen Dokument zum Standardvorgehen bei der Entwicklung einer Impfempfehlung gibt die STIKO einen Einblick in ihre Arbeitsweise (STIKO, 2018). Dazu gehören
- die Priorisierung von zu bearbeitenden Fragestellungen,
- die Aufgabenverteilung,
- die Nutzung eines Fragenkatalogs zur Entwicklung einer Impfempfehlung,
- die Formulierung von Impfzielen,
- die systematische Literaturrecherche,
- die Analyse und Bewertung von Studienergebnissen,
- die Entscheidungsfindung und einiges mehr.
Entsprechend ihrer Verantwortung formuliert die STIKO auch ihre Ziele: Nach dem Vorbild der evidenzbasierten Medizin solle nur „die beste“ verfügbare Evidenz zur Entwicklung von Impfempfehlungen genutzt werden. Inwiefern die Kriterien guter wissenschaftlicher Arbeit und Literaturrecherche nach der evidenzbasierten Medizin erfüllt sind, hat sich ÄFI bei der fünf Schritte umfassenden „STIKO-Methode“ genauer angeschaut.
1. Formulierung der Fragestellungen und Operationalisierung ihrer Bausteine
Am Anfang der Evaluierung einer Impfempfehlung steht die Anwendung des PICO-Schemas zur Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit eines Impfstoffes durch die STIKO. PICO ist eine Abkürzung und steht für Population, Intervention, Comparison und Outcome. Das Schema soll dabei helfen, die Forschungsfrage zu konkretisieren und die relevanten Studien zu identifizieren. Die STIKO hat als weitere Hilfestellung hierfür einen eigenen Leitfaden entwickelt, der wichtige Fragen abdeckt.
2. Systematische Literaturrecherche und Auswahl von relevanten Studien
Sind die Forschungsfragen zur Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit gestellt, wird eine Suchstrategie entwickelt. Die STIKO gibt dafür an, sich an den Kriterien systematischer Literatursuchen zu orientieren, ggf. hält die STIKO Rücksprache mit weiteren Experten (wie dem Cochrane Netzwerk Deutschland). Es wird also in mindestens zwei Datenbanken mittels verknüpfender Elemente (Blockbuilding, Boolesche Operatoren …) nach relevanten Keywords gesucht.
In die Analyse werden Beobachtungs- und Interventionsstudien einbezogen, die den Kriterien der STIKO entsprechen müssen (z. B. Studiendesign, Untersuchungszeiträume), ansonsten werden sie ausgeschlossen. Ergänzend können auch die Ergebnisse von systematischen Reviews genutzt werden. Die Suchstrategie soll dokumentiert werden.
3. Bewertung der Qualität der Evidenz der vorliegenden Literatur anhand definierter Kriterien
Sind die relevanten Studien identifiziert, erfolgt eine Bewertung nach GRADE (Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation), also einer anerkannten Methodik, die beispielsweise auch von der Cochrane Collaboration genutzt wird, um die Qualität der Evidenz in Übersichtsarbeiten und Leitlinien einschätzen zu können. GRADE lässt sich auf randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und Beobachtungsstudien anwenden. Der aus den Studien abgeleitete Effekt wird dann in vier Stufen eingeteilt: sehr niedrige, niedrige, moderate oder hohe Vertrauenswürdigkeit. Systematische Reviews können demgegenüber von der STIKO mithilfe der AMSTAR-Checkliste bewertet werden.
4. Umsetzung der gewonnenen Einsichten in Abwägung der konkreten eigenen Situation (von der Evidenz zur Empfehlung)
Nach der Bewertung der Studien zur Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit folgt schließlich die Einbeziehung von Studien aus anderen Themenfeldern (Epidemiologie, Wahrnehmung der Krankheit in der Bevölkerung, Impfstrategie etc.). Bei Fragen, die nicht die Impfstoffwirksamkeit oder -sicherheit betreffen, wird keine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Hier reichen auch orientierende Literaturrecherchen, die Nutzung von Meldedaten oder die Anwendung eigener mathematischer Berechnungen und Modellierungen. Bei diesen Themenfeldern wird auch nicht nach PICO oder GRADE vorgegangen.
Ob die Studienergebnisse als relevant erachtet werden, hängt laut STIKO auch von der Übertragbarkeit (externer Validität) auf die deutsche Bevölkerung ab. Die STIKO schreibt, dass dafür ggf. auch ein Extraktionsbogen genutzt wird, um die Qualität der Studien zusammenzufassen.
5. Evaluation der Umsetzung und ggf. Anpassung
Als letzter Schritt in diesem Prozess wird ein Beschlussentwurf entwickelt, der die aufbereiteten Ergebnisse und die Evidenzbewertung zusammenfassend berücksichtigt. Als Schlussfolgerung entscheidet die STIKO, die jeweilige Impfung in die Impfempfehlungen aufzunehmen oder nicht. Eine Abstufung in „schwache“ oder „starke“ Empfehlung (wie durch GRADE vorgesehen) wird nicht vorgenommen.
Der Beschluss wird schließlich mit einer wissenschaftlichen Begründung (in Deutsch und Englisch) den betroffenen Fachkreisen, den obersten Landesgesundheitsbehörden und der Geschäftsstelle des gemeinsamen Bundesausschusses zur Stellungnahme zugesandt. Die Stellungnahmen werden vor der endgültigen Abstimmung der STIKO über die Aufnahme der Impfung in die Impfempfehlung zur Beratung eingebracht. Anschließend folgt die Publikation im Epidemiologischen Bulletin des Robert Koch-Institutes.
Folgende Abbildung veranschaulicht diesen Prozess:
Abbildung 1: Darstellung des Prozesses der STIKO bei der Erarbeitung einer neuen Impfempfehlung, eigene Darstellung in Anlehnung an STIKO (2018). Zur Vergrößerung Bild anklicken.
Wie ist die Arbeitsweise der STIKO zu bewerten?
Grundsätzlich begrüßen die Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V. (ÄFI) die Entscheidung der STIKO, das Standardvorgehen (SOP) der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Gremium orientiert sich an wesentlichen Methoden der evidenzbasierten Medizin wie der systematischen Literaturrecherche zur Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit sowie Instrumenten (PICO, GRADE, AMSTAR, Rob oder ROBINS-I …), um die vorhandene Evidenz zu finden und zuverlässig in ihrer Glaubwürdigkeit zu bewerten. Insofern strebt dieser Prozess zur Erarbeitung einer neuen Impfempfehlung nach Wissenschaftlichkeit.
Dennoch gibt die „STIKO-Methode“ Anlass zu Kritik und es bleiben einige Fragen offen.
1. Fehlende Verbindlichkeit bei der Arbeitsweise der Experten:
- So ist kein Studienprotokoll vorgeschrieben, eine Meta-Analyse soll nur nach Möglichkeit durchgeführt werden. Gerade, wenn das Gremium nach hohen Standards der evidenzbasierten Medizin arbeiten möchte, ist ein Studienprotokoll, in dem auch die Methoden der Meta-Analyse festgelegt werden, unverzichtbar. Denn so werden Unterschiede in der Planung und tatsächlichen Durchführung deutlich, was einen erheblichen Einfluss bei der Bewertung der Glaubwürdigkeit der Ergebnisse hat (z. B. über sogenannte Reporting Bias).
- Weiterhin soll eine Literaturrecherche nach systematischen Kriterien nur bei der Impfstoffwirksamkeit und -bewertung, nicht aber bei anderen relevanten Fragen (wie der Krankheitslast, der Impfstrategie, vorhandenen Therapien …) stattfinden – das Gremium setzt hier auf eine explorative Suche.
- Auch die Nutzung von Instrumenten zur Bewertung von Studien wie AMSTAR (wenn systematische Reviews vorhanden sind) wird nicht als unerlässlich eingestuft.
- Sollte die STIKO hier mit knappen finanziellen und personellen Ressourcen argumentieren (wie sie es z. B. hinsichtlich der Priorisierung der zu bearbeitenden Fragestellungen tut), muss dem entgegengehalten werden, welche Wichtigkeit die fundierte Evaluation von Impfempfehlungen für Deutschland hat: Hier sollen präventive Arzneimittel standardmäßig gesunden Menschen verabreicht werden, weshalb die Sicherheitsstandards noch wesentlich höher sein sollten als bei therapeutischen Arzneimitteln.
2. Fehlende Transparenz bei der Gewichtung verschiedener Domänen (Wissensgebiete) bei der Beratung und Beschlussfassung:
- Es stellt sich die Frage, ob die STIKO alle relevanten Studien der verschiedenen Domänen mit einer ausreichenden Gewichtung vornehmen kann. Selbst wenn die Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit außerordentlich hoch sind, bleibt der Nutzen einer Impfempfehlung doch fragwürdig, wenn die Krankheitslast extrem niedrig ist und die Einführung einer Impfempfehlung zum Replacement und zur Verschiebung der Krankheitlast in andere, eher bedrohte Altersgruppen führt. Zudem werden keine allgemeingültigen Schwellenwerte definiert, ab denen eine Krankheit eine solche Public-Health-Relevanz aufweist, dass in der Allgemeinbevölkerung gegen sie geimpft werden muss. In der jetzigen Fassung des SOP erscheint es unklar, welche Kriterien letztlich ausschlaggebend sind, damit eine Impfempfehlung ausgesprochen wird. Eine objektivere Gewichtung könnte möglich werden, indem eine systematische Recherche in allen relevanten Domänen, wie etwa zu Krankheitslast, Impfstrategie oder Therapieoptionen, durchgeführt würde. So stände der STIKO eine solidere Datengrundlage zur Verfügung, die bei der Nutzen-Risiko-Abwägung von wesentlicher Bedeutung ist.
3. Mögliche Mängel bei der Suchstrategie:
- Durch die ausschließliche Suchstrategie mit Suchbegriffen in (zumeist) zwei Datenbanken wird nur Literatur identifiziert, die genutzte Synonyme im Titel, Abstrakt oder Volltext auch tatsächlich verwendet. Die STIKO gibt zwar eine Citation-based-Suchmethode an („die Handsuche in den Literaturverzeichnissen eingeschlossener Veröffentlichungen“), dadurch wird das Problem aber nicht zufriedenstellend gelöst. Wichtig wäre hier eine ergänzende Suchmethode durch MeSH-Terms(medizinische Schlagwörter), sodass auch relevante Literatur aufgefunden werden kann, in welcher die in der Suchstrategie genutzten Synonyme nicht explizit verwendet werden.
- Nicht beschrieben ist zudem die Verwendung von grauer Literatur (z. B. IgeL-Monitor, IQWIG etc.) und dafür geeigneter Datenbanken (wie Google Scholar).
4. Die Einbeziehung und Relevanz von Modellierungen:
- Mathematische Modellierungen verlassen den Boden von medizinischen Tatsachenbehauptungen und geben sich der Spekulation hin. Seit dem Beginn der Chaos-Forschung in den 1960er-Jahren um Edward Lorenz, ferner auch der Komplexitätstheorie, ist bekannt, dass winzigste Änderungen der Anfangsbedingungen in einer Modellrechnung zu ganz und gar anderen Ergebnissen führen können. Daraus wurde schließlich der bekannte „Schmetterlings-Effekt“ abgeleitet, der besagt, dass in nichtlinearen, dynamischen und deterministischen Systemen aus eben beschriebenen Gründen keine Vorhersagen getroffen werden können. Da auch die Biomedizin den physikalischen Gegebenheiten unterworfen ist, können keine exakten Prognosen über die Krankheitslast und die Therapieeffekte bei ganzen Bevölkerungsgruppen vorgenommen werden: Es gibt zu viele Variablen, die nicht alle beachtet werden können. Gerade während der COVID-19-Pandemie (z. B. zur Berechnung des Einflusses der Saisonalität auf die Virusverbreitung oder der zu erwartenden COVID-19-Todesfälle) konnte beobachtet werden, wie fehlerhaft Modellrechnungen sind (Deutsches Ärzteblatt, 2020; Pharmazeutische Zeitung, 2020). Die erheblichen Limitationen sollten dazu führen, dass Modellierungen nur einen geringen und definierten Stellenwert in Leitlinien und Impfempfehlungen erhalten.
5. Die Anwendung der GRADE-Methodik:
- Bei der Entwicklung des Beschlussentwurfes nimmt die STIKO nicht, wie von der Methodik vorgesehen, eine Abstufung in „schwache“ oder „starke“ Empfehlung vor. Somit entsteht der Eindruck, dass es keine Unterschiede hinsichtlich der Datenqualität zu Impfstoffen gibt, sondern dass alle Impfempfehlungen gleich gut begründbar sind. Dem ist aus vielen Gründen nicht so, u. a. auch deshalb, weil Studien, die in eine solche Analyse einfließen können, häufig von Impfstoffherstellern stammen und damit Biasrisiken unterliegen.
- Die STIKO könnte hierbei aber ein anderes Ziel verfolgen: Eine Abstufung der Empfehlung könnte dazu führen, dass Menschen, die vor der Impfentscheidung stehen, sich eine zweite Meinung einholen oder Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Impfempfehlung entwickeln. Indem die Abstufung weggelassen wird, ergibt sich für die Menschen hingegen eine Entscheidungssicherheit, die aber womöglich gar nicht vorhanden ist. Es könnte sich hierbei also um einen Entschluss der STIKO handeln, der primär im Sinne einer Kommunikationsstrategie getroffen wurde.
6. Die Kommunikationsstrategie:
- Nach den Angaben im SOP arbeitet die STIKO schon vor Veröffentlichung der Impfempfehlung an einer Kommunikationsstrategie, um eine mögliche neue Impfempfehlung der Fachwelt bekannt zu machen. 2024 wurde im Rahmen der Neubesetzung der STIKO zudem mit Prof. Dr. Constanze Rossmann eine Kommunikationswissenschaftlerin in das Gremium aufgenommen.
- Aus Public-Health-Sicht ist die Nutzung der Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaften schlüssig. So müssen die Methoden und Ergebnisse der STIKO sinnvoll, transparent und nachvollziehbar an Fachkreise und Bevölkerung kommuniziert werden. Daher unterstützt ÄFI die Anregung des Netzwerks für evidenzbasierte Medizin e. V. (EbM-Netzwerk), die Methodik der STIKO durch eine transparenten und verständlichen Standard zur Kommunikation zu ergänzen (Netzwerk evidenzbasierte Medizin e. V., 2024).
- Das Ziel der Aufnahme einer Kommunikationswissenschaftlerin umreißt die STIKO jedoch ebenso wenig wie die Erarbeitung einer Kommunikationsstrategie schon vor der Veröffentlichung einer Impfempfehlung. Es wird also nicht deutlich, welcher Vorteil sich durch die interne Expertise von Mitgliedern im Vergleich zur externen Expertise durch andere Institutionen wie das Robert Koch-Institut oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ergeben.
7. Fehlende Kriterien zur Bewertung der externen Validität:
- Die STIKO merkt die Wichtigkeit der Bewertung der externen Validität (Übertragbarkeit der Ergebnisse) an. Bisher werden jedoch nur Tools zur internen Validität als klinisch nützlich bewertet. Eine neuere, sehr umfangreiche Studie von Jung et al. (2022) kommt zu dem Ergebnis, dass die Bewertungsinstrumente zur externen Validität (EVAT, RITES, USPSTF, GAP, FAME …) keine guten Resultate erzielen und damit nicht uneingeschränkt empfohlen werden können. Die STIKO gibt nicht an, auf welche Methodik sie sich verlässt, und beschreibt auch keine eigenen Kriterien zur Bewertung, die mögliche Limitationen bisheriger Bewertungsinstrumente überwindet.
Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich eine Übersichtstabelle mit Stärken wie Schwächen der „STIKO-Methode“ erstellen:
Stärken Schwächen Entwicklung von Forschungsfragen und Bausteinen für die Literaturrecherche durch PICO zu Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit Fehlende Verbindlichkeit beim Studienprotokoll, bei der systematischen Recherche anderer Domänen als Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit und der Bewertung systematischer Reviews durch Tools wie AMSTAR-2 Systematische Literatursuche zu Impfstoffwirksamkeit und
-sicherheitUnklare Kriterien bei der Gewichtung verschiedener Domänen in der Beratung für oder gegen eine neue Impfempfehlung Bewertung der Daten zur Impfstoffwirksamkeit und
-sicherheit durch GRADEGRADE wird nicht wie empfohlen angewandt: keine Abstufung in „starke“ oder „schwache“ Empfehlung Bewertung von systematischen Reviews ggf. durch AMSTAR Einbeziehung und Relevanz von mathematischen Modellierungen verlässt den Boden medizinischen Erfahrungswissens Bewertung der externen Validität (Übertragbarkeit) Fehlende Angaben zu Kriterien / der Methodik bei der Bewertung der externen Validität MeSH-Terms und graue Literatur werden nicht beschrieben und/oder nicht genutzt Unklarer Nutzen bei der internen Erarbeitung einer Kommunikationsstrategie Tabelle 1: Stärken und Schwächen der „STIKO-Methode“, eigene Darstellung.
Bewertung der Methodik anhand zweier BeispieleIm Folgenden sollen die bisherigen Ausführungen zum Konzept der „STIKO-Methode“ anhand von zwei praktischen Beispielen - der Impfempfehlung zu Meningokokken B und zu COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen -veranschaulicht werden. Beide Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass für die jeweilige Bevölkerungsgruppe, für die eine Impfempfehlung aufgestellt wurde, eine sehr geringe Krankheitslast festgestellt werden kann – wie dies auch von der STIKO konstatiert wird.
Zusätzlich zur Veröffentlichung im Epidemiologischen Bulletin gibt es regulär für jede Impfempfehlung im Anhang noch eine wissenschaftliche Begründung. Diese ist, wie im SOP beschrieben, entsprechend dem Bewertungsprozeß der STIKO strukturiert. Bei Meningokokken B ist dies der Fall, bei der COVID-19-Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche gibt es jedoch keinen solchen Anhang.
Am 18. Januar 2024 hat die STIKO im Epidemiologischen Bulletin 3/2024 erstmals eine allgemeine Impfempfehlung gegen Meningokokken B ausgesprochen (Robert Koch-Institut, 2024; Ständige Impfkommission, 2024). Da mit Bexsero® nur ein Impfstoff ab einem Alter von 2 Monaten zur Verfügung steht (Tumenba® ist erst ab einem Alter von zehn Jahren zugelassen), bedeutet dies zugleich eine Empfehlung für diesen einzelnen Impfstoff.
Einleitend erklärt die STIKO, dass die Entscheidung gerechtfertigt sei, da mittlerweile weitere wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlicht wurden, zum Beispiel zur Impfeffektivität, zur Schutzdauer und zum Einfluss der Impfung auf Meningokokken-Trägertum.
Invasive Erkrankungen seien zwar „sehr selten“, aber es gebe für Betroffene ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf mit Folgeschäden nach der Infektion. Daher sei eine hohe Public-Health-Relevanz gegeben. Insgesamt seien zwar keine Herdeneffekte zu erwarten, da Bexsero® keinen Effekt auf das Trägertum habe, aber es gäbe einen „guten individuellen Schutz“. Dafür verlässt sich das Gremium auf die Evidenz aus Kohorten- und Fallkontrollstudien. Der hohen Reaktogenität der Impfstoffe könne mit einer zusätzlichen Gabe von Paracetamol entgegengewirkt werden.
Eine genauere Analyse des Epidemiologischen Bulletins 3/2024 und des dazugehörigen wissenschaftlichen Hintergrundpapiers zeigt Schwächen in der Methodik und Argumentation auf:
- Die STIKO hat keinerlei Schwellenwert definiert, ab welchem Meningokokken-Erkrankungen eine hohe Public-Health-Relevanz für Deutschland aufweisen. Dass häufiger schwere Verläufe nach Infektion im Vergleich zu anderen Infektionserkrankungen zu beobachten sind, reicht nicht aus. Die Anzahl der Erkrankungen bzw. die Inzidenz ist auch ohne Impfempfehlung rückläufig und befindet sich mit knapp 100 Erkrankungen im Jahr 2023 bzw. einer kombinierten Inzidenz von 0,4 pro 100.000 in allen Altersgruppen (2,6 pro 100.000 in der Altersgruppe < 1-Jährigen) auf einem sehr niedrigen Niveau. Dies gilt auch im internationalen Vergleich z. B. mit den USA (5,38 pro 100.000 in der Altersgruppe der < 1-Jährigen), wo keine standardmäßige Impfung durch die CDC bzw. ACIP empfohlen wird (Robert Koch-Institut, 2021a; Nguyen & Ashong, 2022).
- Bei der Suchstrategie für MEDLINE und Embase wurde nicht explizit nach den klinisch relevanten Endpunkten, also der Wirksamkeit und Sicherheit, gesucht, obwohl diese eindeutig in der PICO-Fragestellung definiert wurden. So etwa bei den Nebenwirkungen Fieber >39 Grad Celsius, starkes Erbrechen, Kawasaki-Syndrom, Krampfanfälle, Juvenile Arthritis und Guillain-Barré-Syndrom. Es wurde lediglich nach der Population und der Intervention gesucht. Sich hierbei vollkommen auf das Screening zu verlassen (von 1.416 Studien wurden augenscheinlich 1.323 als irrelevant ausgeschlossen), kann auch zu einer gewissen Fehlerhaftigkeit bei der Identifizierung geführt haben. Dies wird auch dadurch deutlich, dass die STIKO keine Studien über die Impfstoffe als mögliche Auslöser für Autoimmunität über molekulare Mimikry und potentielle Kreuzreaktivitäten identifiziert hat (und entsprechend auch nicht darüber diskutiert hat). Relevante Studien dazu sind u. a. Kuhdari et al., 2016; Sharkey et al., 2019; Kanduc, 2023.
- Die von der STIKO identifizierte Evidenz ist mehr als dünn: Nur wenige Beobachtungsstudien (Kohorten-, Fall-Kontroll-Studien) und gar keine Interventionsstudien wurden identifiziert, welche die Wirksamkeit von Bexsero® evaluiert haben. Zur Wirksamkeit von Trumenba® wurde sogar gar keine Studie identifiziert. Dadurch, dass bei Bexsero® nur Beobachtungsstudien zur Verfügung stehen, sind die Ergebnisse gut auf andere Bevölkerungsgruppen, die nicht in dem jeweiligen Studiensetting untersucht wurden, übertragbar. Aber es ist höchst wahrscheinlich, dass der wahre Effekt stark von den Studien durch Biasrisiken abweicht. Wenn die STIKO also von einer kombinierten Impfeffektivität von 70 bzw. 71 % gegen Meningokokken-(B)-assoziierte Aufnahmen auf die Intensivstation, Todesfälle und Langzeitfolgen spricht, dann muss hier zurecht, wie die STIKO schreibt, von einem geringen Vertrauen in die Evidenz ausgegangen werden. Der wahre Therapieeffekt könnte sehr viel niedriger oder höher sein.
- Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) konnten nur zur Wirksamkeit der Impfstoffe gegen das Meningokokken-B-Trägertum und zur Sicherheit identifiziert werden. Da das Verzerrungsrisiko in den Studien zum Trägertum mit moderat bewertet wurde, ist als wahrscheinlich anzunehmen, dass die Impfstoffe hier keine Effekte zeigten und damit auch nicht für eine Herdenimmunität, sondern nur für einen Eigenschutz relevant sind.
- In allen vier von der STIKO identifizierten RCTs zur Sicherheit von Bexsero erhielt die Kontrollgruppe eine Impfung gegen Meningokokken ACWY. In drei der sechs RCTs zur Sicherheit von Trumenba® erhielten die Probanden noch mindestens einen weiteren Impfstoff; in den drei übrigen Studien ausschließlich ein Placebo, eine zweifache Hepatitis-A-Impfung gefolgt von einem Placebo oder je nach Altergruppe ausschließlich ein Placebo oder eine Hepatitis-A-Impfung. In den allermeisten Studien wurde demnach kein echtes Placebo (z. B. Kochsalz) verwendet. Somit ist es wahrscheinlich, dass ein Performance Bias aufgetreten ist, da der Vergleich einer Intervention (z. B. Meningokken-B-Impfung) mit einer ähnlichen Intervention (z. B. Hepatitis-A-Impfung) zu besseren Resultaten für die zu untersuchende Intervention führt. Hier sind unbedingt weitere RCTs mit echten Placebos notwendig, wenn schon Studien mit Pseudoplacebos eine hohe Reaktogenität feststellen.
- Bei Post-Marketing-Studien zu den Meningokokken-B-Impfstoffen handelt es sich um Spontanberichte, weshalb von einer hohen Untererfassung ausgegangen werden muss (Hazell & Shakir, 2006). Auch hier wurde eine hohe Reaktogenität berichtet, schwerwiegende unerwünschte Ereignisse (SAEs & AESIs) waren zwar selten (< 0,1%), aber im Vergleich zur Kontrolle 1,5-fach erhöht. Diese Ergebnisse müssen unbedingt um Registerstudien ergänzt werden.
- Während die STIKO einleitend schreibt, dass weitere Studien (u. a. zur Schutzdauer der Impfstoffe) veröffentlicht wurden, schreibt sie an späterer Stelle (Kapitel 8.2): „Zur Schutzdauer der MenB-Impfstoffe gegen IME [invasive Meningokokken-Erkrankungen] und daraus resultierende Hospitalisierungen, schwere Komplikationen, Behinderungen oder Todesfälle sind bislang keine Daten bekannt.“
- Auch wenn Modellrechnungen generell als sehr fehlerhaft einzustufen sind, so zeigen selbst die zwei von der STIKO einbezogenen Modellierungsstudien den geringen Effekt der Impfungen auf: Die berechnete number needed to vaccinate (NNV) ist mit 12.668 extrem hoch. Es müssten also 12.668 Kinder geimpft werden, um einen Todesfall zu verhindern. Bei einer sehr gering geschätzten Rate von 0,1% an schweren Nebenwirkungen müssten etwa 13 Kinder mit schweren Nebenwirkungen in Kauf genommen werden, um einen Todesfall bei einem Kind zu verhindern. Überdies zeigen die Ergebnisse in jedem Szenario, dass die Meningokokken-B-Impfstoffe nicht kosteneffektiv für das Gesundheitssystem sind (ICER > 500.000/QALY).
- Auch Interessenskonflikte müssen berücksichtigt werden: Prof. Dr. Tobias Tenenbaum, Mitglied der Arbeitsgruppe Meningokokken der STIKO, hat ein „persönliches Honorar für seine Mitarbeit im wissenschaftlichen Beirat von GSK“ erhalten. GSK ist der Hersteller des Impfstoffes Bexsero®. Auch wenn Prof. Dr. Tenenbaum nicht an der abschließenden Beratung und Beschlussfassung teilgenommen hat, so muss mindestens davon ausgegangen werden, dass er beim methodischen Teil mitgearbeitet hat und einen Einfluss auf die anderen STIKO-Mitglieder ausüben konnte.
Die angeführten Argumente werden in folgender Tabelle mit Pro- und Kontra-Argumenten zu einer Meningokokken-B-Impfempfehlung zusammengefasst:
Pro Kontra Hohes Risiko eines schweren Verlaufes und Folgeschäden nach Infektion Allgemein sehr geringe Krankheitslast. Es wurde von der STIKO kein Schwellenwert definiert, ab dem von einer hohen Public-Health-Relevanz gesprochen werden kann Bisher selten schwerwiegende Nebenwirkungen nach Impfung festgestellt, hier sind jedoch weitere RCTs mit echten Placebos sowie Registerstudien notwendig Hohe Reaktogenität, die zusätzliche Paracetamolgabe bei Bexsero® erfordert, ist einzigartig bei den bisher empfohlenen Impfstoffen Die Suchstrategie der STIKO hat nicht alle relevanten Endpunkte identifiziert, z. B. Autoimmunpathologien nach Impfung Die Evidenz zur Wirksamkeit ist sehr dünn, da hier nur Beobachtungsstudien zur Verfügung stehen Es ist sehr wahrscheinlich, dass keine Herdeneffekte zu erwarten sind, da die Impfstoffe keinen Effekt auf das Trägertum haben (moderate Evidenz aus RCTs) Keine Daten zur Schutzdauer der Impfung Modellrechnungen ergeben sehr hohe NNV und keine Kosteneffektivität für das Gesundheitswesen Interessenskonflikte beim Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Meningokokken der STIKO (hat für GSK gearbeitet, dem Hersteller von Bexsero®) Tabelle 2: Pro- und Kontra-Argumente zur Meningokokken-B-Impfempfehlung, eigene Darstellung.
Die vielen Kontra-Argumente im Vergleich zu den zwei Pro-Argumenten zeigen auf, dass die STIKO eine recht subjektive Gewichtung der verschiedenen Domänen bei der Erstellung einer Impfempfehlung vornehmen kann. Das Gremium hat scheinbar die Häufigkeit der schweren Verläufe und Folgeschäden nach Infektion als sehr viel wichtiger gewertet als alle anderen Domänen. Denn nach der sehr detaillierten Auswertung der STIKO zur Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit würde wahrscheinlich nicht einmal sie selbst davon sprechen, dass hier eine sehr gute Datenlage zu einem herausragenden Impfstoff vorliegt.
Es muss also als eine Problematik der „STIKO-Methode“ gewertet werden, dass die abschließende Beratung und Beschlussfassung kein vollkommen transparenter Prozess ist, bei dem also nicht genau nachvollzogen werden kann, wie die STIKO schließlich zu ihrer Empfehlung kommt.
Die im Januar 2024 beschlossene Impfempfehlung für Meningokokken B ist für die Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V. dementsprechend nicht nachzuvollziehen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Ergebnisse, welche die STIKO im Epidemiologischen Bulletin 3/2024 selbst vorgestellt hat, als auch für die eigene Literaturrecherche und -bewertung, die ÄFI im Rahmen des Meningokokken-Fachbeitrages auf seiner Webseite veröffentlicht hat.
Mit der Einführung der COVID-19-Impfstoffe von Pfizer/BioNTech und Moderna Ende 2020/Anfang 2021 wurde die mRNA-Technologie erstmals massenhaft eingesetzt. Die extreme Geschwindigkeit, mit der die Impfstoffe entwickelt wurden, und die neuartige Technologie im Gegensatz zu den herkömmlichen Impfungen hätten eine wissenschaftlich sehr sorgfältige Begleitung erfordert – insbesondere für Kinder und Jugendliche und all jene Bevölkerungsgruppen, die keinem besonderen Risiko durch SARS-CoV-2 ausgesetzt waren.
Leider wurde die Debatte medial und politisch sehr aufgeheizt. Sprach sich die STIKO noch am 10. Juni 2021 gegen eine Impfung für Kinder und Jugendliche aus und kritisierte dabei das Drängen der Politik ohne jede Evidenz (Ärzte Zeitung, 2021; Robert Koch-Institut, 2021b), folgte zwei Monate später, am 19. August 2021, die Kehrtwende: Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren wurde pauschal eine Impfung mit Comirnaty empfohlen (Robert Koch-Institut, 2021c). Als Schlussakt dieses Dramas hat die STIKO 20 Monate später, in einer Pressemitteilung vom 25. April 2023, angekündigt, die Impfempfehlung für Unter-18-Jährige zurückzunehmen.
Um die Argumente und die Methodik der STIKO nachzuvollziehen, müssen also drei Epidemiologische Bulletins analyisiert werden: 23/2021 (6. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung), 33/2021 (9. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung) und 21/2023 (Implementierung der COVID-19-Impfung in die allgemeinen Empfehlungen der STIKO 2023) (Robert Koch-Institut, 2021b, 2021c, 2023).
Epidemiologisches Bulletin 23/2021
- Im Epidemiologischen Bulletin 23/2021 spricht die STIKO noch davon, dass anzunehmen sei, nur Kinder und Jugendliche mit bestimmten Vorerkrankungen seien vermehrt von einem schweren Verlauf betroffen. Dazu zählen etwa Adipositas, Immundeffizienz/Immunsuppression, angeborene zyanotische Herzfehler, schwere Herzinsuffizienz, schwere pulmonale Hypertonie. Außerdem wird die Impfung Kindern und Jugendlichen empfohlen, in deren Umfeld sich Menschen mit einem hohen Risiko für einen schweren Verlauf aufhalten, die selbst nicht geimpft werden können oder bei denen der begründete Verdacht besteht, dass die Impfung keinen ausreichenden Schutz vermittelt.
- Dass COVID-19 eine in der Regel „milde Erkrankung im Säuglings-, Kindes-, und Jugendalter“ ist, stützt die STIKO auf Evidenz aus systematischen Reviews und Beobachtungsstudien. Zum damaligen Zeitpunkt (10. Juni 2021) wurden in Deutschland 1.501 Kinder und Jugendliche mit positivem PCR-Test hospitalisiert. Dabei wurde jedoch, wie die STIKO korrekt feststellt, keine Unterscheidung zwischen „mit“ oder „wegen“ SARS-CoV-2-Infektion behandelt getroffen. Die Anzahl der Todesfälle (auch hier unklar, ob mit oder an SARS-CoV-2-Infektion verstorben) wird mit insgesamt 12 in der Altersgruppe der 0- bis 17-Jährigen angegeben (bei einer Gesamtzahl von 71.240 in allen Altersgruppen). Die STIKO spricht auch aufgrund der Letalität (0,001 %) bei SARS-CoV-2 von einer Vergleichbarkeit zu Influenza für Kinder und Jugendliche.
- PIMS (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome) wurde zum damaligen Zeitpunkt in der Ätiologie als unklar beschreiben, die Datenlage zu Long-COVID bei Kindern als sehr limitiert.
- Die STIKO hat zudem die Zulassungsstudie von Comirnaty ausgewertet. Die Wirksamkeit des Impfstoffes bei 12- bis 17-Jährigen sei zwar gut, dies gelte jedoch nur für leichte Erkrankungen. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung konnten keine Aussagen über die Verringerung von schweren Erkrankungen, Hospitalisierungen und Tod getroffen werden. Zudem muss beachtet werden, dass bisher kein serologisches Korrelat identifiziert werden konnte, bei dem ein sicherer Schutz gegen COVID-19 angenommen werden kann. Die Aussagen zur Sicherheit sind durch den kurzen Nachbeobachtungszeitraum von 7 Tagen begrenzt. Klar sei aber eine leicht höhere Reaktogenität als bei Über-18-Jährigen. Bereits von Februar bis April 2021 gab es erste Hinweise auf (Peri-)Myokarditen bei jungen Männern nach Impfung.
Epidemiologisches Bulletin 33/2021
- Die Änderung hin zu einer allgemeinen Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche von 12 bis 17 Jahren im Epidemiologischen Bulletin 33/2021 begründet die STIKO mit der „Bewertung neuer quantitativer Daten zur Sicherheit der Impfung und zur Krankheitslast sowie einer Modellierung von direkten Effekten der Impfung auf diese Altersgruppe wie auch indirekten Effekten auf andere Altersgruppen“. So sollen laut STIKO durch die Impfung sowohl Krankheitsfälle und Hospitalisierungen verhindert, aber auch Einschränkungen der sozialen und kulturellen Teilhabe abgemildert werden.
- COVID-19 wird weiterhin als eine in der Regel „milde Erkrankung im Säuglings-, Kindes-, und Jugendalter“ eingestuft. Auch durch die Delta-Variante soll sich daran nichts geändert haben. So sind seit dem Epidemiologischen Bulletin 23/2021 zwei neue Todesfälle bei den 0- bis 17-Jährigen hinzugekommen.
- Auch wenn das Gremium eine allgemeine Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige ausspricht, hält die STIKO eine ärztliche, für diese Zielgruppe verständliche Aufklärung für erforderlich. Wichtige Aspekte bei der Aufklärung lägen u. a. im seltenen Auftreten von Myokarditen nach Impfung, aber auch nach der Infektion, in der fehlenden Quantifizierbarkeit von Long-COVID (auch wegen fehlender Kontrollgruppen), im seltenen Auftreten von PIMS und dem laut Modellierungen eher nachrangigen Effekt der Impfung dieser Altersgruppe für die vierte SARS-CoV-2-Welle. Da nun auch Spikevax für diese Altersgruppe empfohlen wird, hält die STIKO es für wichtig, darüber aufzuklären, dass zu Comirnaty wegen häufigerem Einsatz mehr Sicherheitsdaten vorliegen.
- Weiterhin besteht das Defizit hinsichtlich der Daten zur Wirksamkeit gegen schwere Erkrankungen, Hospitalisierungen und Tod aufgrund der Seltenheit solcher Ereignisse in der Altersgruppe, sowohl für Comirnaty als auch für Spikevax. Die STIKO stützt sich hier lediglich auf die Annahme, dass die Impfstoffe bei diesen Endpunkten genauso wirksam sind wie in der älteren getesteten Gruppe der Über-18-Jährigen. Und auch weiterhin gilt, dass kein serologisches Korrelat identifiziert werden konnte, bei dem ein sicherer Schutz gegen COVID-19 angenommen werden kann.
- Schließlich verlässt sich das Gremium auf eigens als recht „unsicher“ und „dynamisch“ beschriebene Modellierungen, welche die Vorteile der Impfung zur Verringerung der Krankheitslast bei Kindern und Jugendlichen aufzeigen sollen.
- Die STIKO fordert zwar, den Zugang von Kindern und Jugendlichen zu Bildung, Kultur und anderen Aktivitäten des sozialen Lebens nicht vom Vorliegen einer Impfung abhängig zu machen. Gleichzeitig gibt das Gremium aber als Impfziel aus, durch eine Impfung die psychosozialen Folgen abmildern zu wollen, weil so weniger Infektionsschutzmaßnahmen (wie Kontaktbeschränkungen, Quarantänemaßnahmen und temporäre Schulschließungen) bei dieser Gruppe notwendig wären. Damit wurde jedoch erst einer Ungleichbehandlung Tür und Tor geöffnet. Auch in Anbetracht der selbst von der STIKO festgestellten geringeren Viruslast von Kindern und Jugendlichen und dem geringen Effekt der Impfung auf die Transmission in der Bevölkerung, ist die Begründung der Impfempfehlung auf Basis von psychosozialen Faktoren widersprüchlich.
Epidemiologisches Bulletin 21/2023
- Das Epidemiologische Bulletin 21/2023 beschäftigt sich neben der Rücknahme der Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche anlässlich des Übergangs von der Pandemie in die Endemie mit der Implementierung der COVID-19-Impfung in die allgemeinen Empfehlungen der STIKO. Die Ergebnisse dieses Bulletins müssen daher auch im Lichte der strategischen, d. h. langfristigen Überlegungen der STIKO betrachtet werden. Es gibt kein eigenes Kapitel zu Kindern und Jugendlichen wie bei den Epidemiologischen Bulletins 23/2021 und 33/2021, dementsprechend kurz fällt die Begründung für die Rücknahme der Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche aus.
- Besonders interessant ist, dass die STIKO nun von „inzwischen überwiegend milden Verläufen“ und der „sehr geringen Hospitalisierungsinzidenz“ spricht, weswegen sie keine COVID-19-Grundimmunisierung oder Auffrischung mehr für Kinder und Jugendliche empfiehlt. Das Gremium sprach selbst unter der Delta-Variante noch von einer „milden Erkrankung im Säuglings-, Kindes-, und Jugendalter“, es hat sich also wenig bis nichts an der Seltenheit schwerer Verläufe bei Kindern und Jugendlichen geändert, auch nicht die grundsätzliche Einschätzung der STIKO. Und dennoch führt die STIKO dies als Hauptargument für die Rücknahme der Empfehlung an.
- Die STIKO geht bei Erwachsenen aufgrund der Omikron-Variante von einer geringeren Krankheitsschwere aus – und somit vermutlich auch davon, dass Kinder und Jugendliche (noch) seltener von COVID-19 betroffen sind. Literaturangaben macht sie dazu jedoch nicht. Die Letalität fällt jedoch mit 0,002% ähnlich aus wie im Epidemiologischen Bulletin 23/2021.
- Die von der STIKO ausgewerteten systematischen Reviews des RKIs (zu Kindern unter 12 Jahren) und der McMaster Universität ergaben eine Impfstoffwirksamkeit von >75 % bei 5- bis 17-Jährigen gegen PIMS und schwere COVID-19-Verläufe. Es lagen jedoch keine Daten zum Schutz von Auffrischimpfungen, zur hybriden Immunität oder zur Schutzdauer der Impfstoffe vor. Auf den Schutz vor Hospitalisierung und Tod durch Impfung der 12- bis 17-Jährigen geht die STIKO nicht ein.
- Auch zum Long-COVID- bzw. Post-COVID-Syndrom war die Studienlage weiterhin so heterogen, dass keine eindeutigen Aussagen getroffen werden konnten.
- Die Häufigkeit von Peri-/Myokarditen nach Spikevax hat die STIKO schließlich dazu veranlasst, Unter-30-Jährigen nur noch Comirnaty zu empfehlen. Die von der STIKO ausgewerteten Daten zeigen ein bis zu sechsfach höheres Risiko nach Spikevax im Vergleich zu Comirnaty (1:3.333 bzw. 1:16.666).
Epid Bull 23/2021: Keine Empfehlung ausgesprochen Epid Bull 33/2021: Empfehlung ausgesprochen Epid Bull 21/2023: Keine Empfehlung mehr ausgesprochen „milde Erkrankung im Säuglings-, Kindes-, und Jugendalter“, bisher 12 Kinder an oder mit SARS-CoV-2-Infektion verstorben, die Letalität wird ohne Dunkelziffer mit 0,001% angegeben „milde Erkrankung im Säuglings-, Kindes-, und Jugendalter“, bisher 14 Kinder an oder mit SARS-CoV-2-Infektion verstorben; keine Hinweise, dass die Delta-Variante etwas daran ändert „inzwischen überwiegend milde Verläufe“, Letalität mit 0,002% ähnlich wie im Epid Bull 23/2021; demnach keine Hinweise auf eine geringere Krankheitslast durch Omikron PIMS in der Ätiologie unklar, Long-COVID-Datenlage sehr limitiert PIMS sehr selten, Long-COVID nicht quantifizierbar PIMS sehr selten aber abhängig von der Variante (unter Omikron 15- bis 20-fach reduziert), Studienlage zu Long-COVID weiterhin heterogen Keine Daten zur Wirksamkeit der Impfung gegen schwere Erkrankung, Hospitalisierung und Tod Keine Daten zur Wirksamkeit der Impfung gegen schwere Erkrankung, Hospitalisierung und Tod Keine Daten bzw. Angaben zur Wirksamkeit der Impfung gegen Hospitalisierung und Tod Kein serologisches Korrelat vorhanden, bei dem ein sicherer Schutz gegen COVID-19 angenommen werden kann Kein serologisches Korrelat vorhanden, bei dem ein sicherer Schutz gegen COVID-19 angenommen werden kann Keine Angabe Durch kurze Nachbeobachtungszeit von 7 Tagen nach der Impfstoffdosis Aussagen zur Sicherheit von Comirnaty in den Zulassungsstudien begrenzt Durch kurze Nachbeobachtungszeit von 7 Tagen nach der Impfstoffdosis Aussagen zur Sicherheit von Comirnaty/Spikevax in den Zulassungsstudien begrenzt Keine Angabe Höhere Reaktogenität als bei Älteren durch Comirnaty Höhere Reaktogenität als bei Älteren durch Spikevax Zugelassene Impfstoffe als reaktogen zu bewerten Hinweise auf das Auftreten von (Peri-Myokarditen nach Impfung Häufigkeit von Myokarditen bei Jungen nach Impfung 1:17.000, Mädchen 1:110.000; kann aber auch nach Infektion auftreten Peri- und Myokarditen bei Unter-30-Jährigen Spikevax geimpften 1:3.333, daher keine Empfehlung mehr, bei Comirnaty 1:16.666 Als „unsicher“ und „dynamisch“ beschriebene Modellrechnungen ergeben Verringerung der Krankheitslast durch die Impfung Keine Modellrechnungen zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe für Deutschland beschrieben Impfung soll auch als Puffer für die psychosozialen Folgen für Kinder und Jugendliche dienen, aber nicht als Voraussetzung für die soziale Teilhabe gelten Keine Angaben zu den psychosozialen Folgen von Kindern und Jugendlichen Keine Daten zum Schutz von Auffrischimpfungen, hybrider Immunität und Schutzdauer der Impfungen vorhanden Tabelle 3: Übersicht zu den Gründen der STIKO für oder gegen eine Impfempfehlung von 12- bis 17-Jährigen in den jeweiligen Epidemiologischen Bulletins 23/2021 (10. Juni 2021), 33/2021 (19. August 2021) und 21/2023 (25. Mai 2023) (Robert Koch-Institut, 2021b, 2021c, 2023).
Fazit zur COVID-19-Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche- Bei der Analyse der drei Epidemiologischen Bulletins zur Impfempfehlung von Kindern und Jugendlichen wurde wie auch bei der Analyse des Epidemiologischen Bulletins zur Meningokokken-B-Impfempfehlung deutlich, dass die Arbeitsweise der STIKO recht subjektiven Kriterien unterworfen ist, die zu einer Impfempfehlung führen können.
- Im Vergleich zu anderen Impfempfehlungen gibt es bei der COVID-19-Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche kein wissenschaftliches Hintergrundpapier, sodass nicht nachvollzogen werden kann, welche Methoden und Instrumente die STIKO bei der Auswertung im Epidemiologischen Bulletin 21/2023 angewandt hat. Es muss davon ausgegangen werden, dass die STIKO keinerlei systematische Kriterien bei der Literaturrecherche und Auswertung genutzt hat (nicht einmal bei der Impfstoffwirksamkeit und -bewertung), sondern lediglich eine explorative Suche. Die STIKO spricht nur von einer „Sichtung der Literatur“. Da extrem viele Studien während der COVID-19-Pandemie veröffentlicht wurden, ist nicht nachvollziehbar, weshalb die STIKO hier nicht präziser gearbeitet hat. So kann der Anspruch der STIKO, „die bestmögliche Evidenz zu nutzen“, jedenfalls nicht erfüllt werden.
- Doch schon die von der STIKO ausgewerteten Daten sprechen eine klare Sprache: Dass es insbesondere für die relevanten Endpunkte Hospitalisierung und Tod in allen drei Epidemiologischen Bulletins keine Daten in der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen gab und sich die STIKO nur auf theoretische Überlegungen gestützt hat, die STIKO aber gleichzeitig anerkannt hat, dass die Erkrankung in den allermeisten Fällen mild verläuft, zeigt eindeutig die fehlende empirische Grundlage für eine allgemeine Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige auf.
- Eine nicht zu vernachlässigende Rolle dürfte dabei wohl auch der politische und mediale Druck gespielt haben. So wollte beispielsweise der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn die STIKO übergehen und allen Kindern und Jugendlichen nach und nach auch ohne Impfempfehlung ein Angebot machen (Frankfurter Allgemeine, 2021). Der jetzige Wirtschaftsminister Habeck forderte damals, dass „die STIKO in die Gänge kommen solle“ (Hackenbruch, 2021). SPD-Chefin Saskia Esken sprach davon, dass „die STIKO ihre Entscheidung hoffentlich bald überdenkt“. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mahnte die STIKO zur Eile bei ihrer Entscheidung und der jetzige Gesundheitsminister Karl Lauterbach war der Ansicht, die Studienlage besser zu kennen als die STIKO, als er wegen der Delta-Variante für die flächendeckende Impfung von Kindern und Jugendlichen eintrat. Der bis 2024 amtierende Chef der STIKO, Thomas Mertens, antwortete schließlich darauf: „Die Stiko ist im Gesetz bewusst als unabhängige Kommission angelegt. Die laute Einmischung der Politik ist kontraproduktiv und nützt niemandem“ (Giebel, 2021).
- Doch spurlos sind diese Forderungen offenbar nicht an der STIKO vorbeigegangen. Im Hintergrundgespräch mit der WELT im August 2024 haben damals noch amtierende STIKO-Mitglieder nun zugegeben, dass es keine medizinischen Gründe für die Kinder-Impfung gegen COVID-19 gab. Es gab zwar wohl keine direkte Anordnung vom Bundesgesundheitsministerium an die STIKO, jedoch habe sich das Gremium "in einer Druckblase" befunden (Kröning, 2024).
- Es zeigt sich einmal mehr, wie wichtig es ist, die Unabhängigkeit der STIKO dadurch zu sichern, dass die Mitglieder keinem politischen Druck ausgesetzt sind sowie keinen Interessenskonflikten durch Verbindungen zur Impfstoffindustrie unterliegen.
- Dass sich die STIKO im Mai 2023 schließlich dazu entschieden hat, die Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche zurückzunehmen, dürfte auch damit zu tun gehabt haben, dass die Rufe nach der endemischen Lage immer lauter wurden und der akute Krisenmodus somit auch politisch/medial verlassen werden konnte. Die Glaubwürdigkeit hinsichtlich ihrer Methodik hat die STIKO damit aber nachhaltig beschädigt. Denn eine tatsächliche Notwendigkeit einer Impfung bestand für Kinder und Jugendliche zu keinem Zeitpunkt und bei keiner Variante. Das zeigt nicht nur der ÄFI-Fachbeitrag auf, dafür hat schon die STIKO selbst jede Menge Argumente geliefert.
Das Standardvorgehen der STIKO (SOP) oder auch die „STIKO-Methode“ weist einige gute theoretische Überlegungen zur Literatursuche und -bewertung auf. Die STIKO räumt der Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit eine besondere Position ein, da sie nur in diesem Bereich eine systematische wissenschaftliche Arbeit verfolgt. Die Nutzung des PICO-Schemas und der Anwendung der GRADE-Methodik kann zu einer validen Auswertung der vorhandenen Daten führen.
Theoretisch wie praktisch bleiben jedoch einige Fragezeichen. Es ist nicht vollkommen klar, wie die STIKO bei der Gewichtung der verschiedenen Domänen vorgeht (etwa der Gegenüberstellung von Krankheitslast und Nutzen des Impfstoffes). Dies ist insbesondere für die beiden Beispiele der Meningokokken-B-Impfempfehlung und der zeitweisen COVID-19-Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche deutlich geworden. Es fehlt eindeutig ein transparenter Einblick in die Nutzen-Risiko-Abwägung der STIKO für eine neue Impfempfehlung.
Weiterhin fehlt es der systematischen Literaturrecherche bisweilen an notwendiger Tiefe. So scheint die STIKO keine graue Literatur und auch keine MeSH-Terms zu verwenden, obwohl dies eine sinnvolle Ergänzung darstellt. Bei der Auswertung von Literatur gibt die STIKO zwar an, die externe Validität zu bewerten, von Wissenschaftlern oder eigens entwickelte Kriterien werden dafür aber nicht angegeben.
Bei der praktischen Anwendung der eigens definierten Kriterien sind schon für Außenstehende einige Probleme festzustellen, wie etwa die fehlende Suche nach Endpunkten bei der Meningokokken-B-Impfung, oder die Nicht-Anwendung von Kriterien wie bei der COVID-19-Impfung für Kinder und Jugendliche, bei der keinerlei systematische Literaturrecherche durchgeführt wurde. Finanzielle, zeitliche oder personelle Gründe dürfen auch im Ausnahmezustand wie einer Pandemie aufgrund der großen Effekte hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit einer Impfempfehlung für die Bevölkerung kein Argument sein.
Für die Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfempfehlung wäre ein Vorgehen sinnvoller, das weniger auf spekulative Modellrechnungen und mehr auf eine evidenzbasierte und transparente Auswertung und Kommunikation der vorhandenen Evidenz setzt. Eine Möglichkeit dafür wäre auch eine Abstufung der Impfempfehlung in „stark“ und „schwach“, wie von GRADE vorgesehen. Dies würde auch den Impfarzt bestärken, sich tiefergehend mit den Impfempfehlungen der STIKO und der zur Verfügung stehenden Evidenz zu befassen und dadurch Patientinnen und Patienten individuell beraten zu können.
Bisher wird nicht dargelegt, welchen konkreten Nutzen sich die STIKO von der Erarbeitung einer Kommunikationsstrategie erhofft. Klar ist, dass die STIKO zur Wiederherstellung des Vertrauens in der Bevölkerung, das insbesondere durch die COVID-19-Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche nachhaltig Schaden genommen hat, nun Transparenz und Unabhängigkeit beweisen muss – so zum Beispiel durch die Einführung neuer Richtlinien für die Mitglieder hinsichtlich Interessenskonflikten und einem transparenten und verständlichen Standard zur Kommunikation der Ergebnisse an die Bevölkerung, wie ihn das EbM-Netzwerk angeregt hat.
Vergleich der Arbeitsweise von STIKO und ÄFI
Ein direkter Vergleich der Arbeitsweise von STIKO und ÄFI ist nur bedingt möglich. Dies liegt daran, dass die STIKO ein ehrenamtliches Gremium aus mittlerweile 19 Expertinnen und Experten ist, die Impfempfehlungen für Deutschland entwickeln und zusätzlich über zuarbeitende Mitarbeiter aus dem RKI verfügt. Bei den Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung (ÄFI) handelt es sich um einen Verein, dessen Team zur Erarbeitung von Fachbeiträgen zu Impfungen aus zwei Medizinern und zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern besteht. Das Ziel der Fachbeiträge ist keine Entwicklung von Impfstrategien, sondern die sachliche Aufbereitung der vorhandenen Evidenz zu Impfungen, um Ärztinnen und Ärzten, Eltern sowie Patientinnen und Patienten eine Entscheidungshilfe anzubieten. Dabei orientiert sich ÄFI auch an den Stellungnahmen der STIKO und formuliert aufgrund der eigenen Literaturrecherche mögliche Kritikpunkte an den bestehenden STIKO-Empfehlungen.
Aufgrund unterschiedlicher Ziele ist die folgende Tabelle dementsprechend eingeschränkt aussagekräftig. Für weitere Informationen zur Arbeitsweise von ÄFI lesen Sie bitte hier weiter.
Methodik STIKO ÄFI Vorab Veröffentlichung eines Protokolls Nein Nein Entwicklung von Forschungsfragen und Bausteinen für die Literaturrecherche durch PICO Nur zu Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit Ja Durchführung einer Literaturrecherche nach systematischen Kriterien Nur zu Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit Teilweise Veröffentlichung der Suchstrategie (PICO-Tabelle, Suchbegriffe, Blockbuilding etc.) Teilweise Nein Nutzung von MeSH-Terms Nein Ja Nutzung von grauer Literatur Nein Ja Anwendung von GRADE und statistischer Methoden, ggf. Meta-Analyse Nur zu Impfstoffsicherheit und -wirksamkeit Nein Nutzung von Tools wie AMSTAR-2, Rob, ROBINS-I zur Bewertung der internen Validität von Studien Ja Ja Bewertung der externen Validität Ja Ja Gewichtung verschiedener Domänen (Impfziele, Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit, Impfstrategie, Gefährlichkeit des Erregers, Krankheitlast …) Eigene Kriterien Eigene Kriterien Hohe Bedeutung von mathematischen Modellierungen Ja Nein Entwicklung einer Kommunikationsstrategie vor Veröffentlichung Ja Nein Interessenskonflikte durch Verbindungen zu Impfstoffherstellern Teilweise Nein Regelmäßige Aktualisierung und Überprüfung der Ergebnisse Ja Ja Tabelle 4: Vergleich zwischen der Methodik von der STIKO und ÄFI
Ärzte Zeitung. (2021, Juni 20). STIKO-Chef Mertens kritisiert Drängen auf COVID-Impfung für Kinder. aerztezeitung.de. https://www.aerztezeitung.de/Medizin/STIKO-Chef-Mertens-kritisiert-Draengen-auf-COVID-Impfung-fuer-Kinder-420672.html
Deutsches Ärzteblatt. (2020, März 9). Modellrechnung deutet auf geringen saisonalen Effekt auf SARS-CoV-2-Ausbreitung hin. aerzteblatt.de. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/110945/Modellrechnung-deutet-auf-geringen-saisonalen-Effekt-auf-SARS-CoV-2-Ausbreitung-hin
Frankfurter Allgemeine. (2021, Mai 26). Spahn will Corona-Impfung für Kinder auch ohne Stiko-Empfehlung. FAZ.NET. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/spahn-will-corona-impfung-fuer-kinder-auch-ohne-stiko-empfehlung-17358671.html
Giebel, M. (2021, Juli 7). Corona-Impfungen für Kinder? Söders Tweet fliegt ihm um die Ohren - Stiko-Chef wird deutlich. Merkur.de. https://www.merkur.de/deutschland/soeder-stiko-impfung-kinder-jugendliche-lauterbach-mertens-twitter-esken-90844708.html
Hackenbruch, F. (2021, Juli 29). Stiko „soll mal ein bisschen in die Gänge kommen“: Habeck fordert Überprüfung der Impfempfehlung für Kinder. Der Tagesspiegel Online. https://www.tagesspiegel.de/politik/habeck-fordert-uberprufung-der-impfempfehlung-fur-kinder-4266700.html
Hazell, L., & Shakir, S. A. W. (2006). Under-reporting of adverse drug reactions: A systematic review. Drug Safety, 29(5), 385–396. https://doi.org/10.2165/00002018-200629050-00003
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Kröning, Anna (2024, August 16). Drei Tage vor dem ersten Lockdown änderte das RKI plötzlich seinen Standpunkt. WELT. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus252991274/RKI-Protokolle-entschluesselt-Drei-Tage-vor-dem-ersten-Lockdown-aenderte-das-RKI-ploetzlich-seinen-Standpunkt.html
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Stand: 14. Okt. 2024
Nächste Aktualisierung: 14. Juni 2025
Erstveröffentlichung: 14. Juni 2024